Wir haben uns mit dem Übersetzer, Journalisten und Autor Marton Radkai über Neugier, schwierige Lehrer, mechanische Uhren, New York und die partizipatorische Kooperative, in der er in der Schweiz lebt, unterhalten!
Herr Radkai, in Ihrem Blog findet man als Erstes eine Erinnerung an Ihre Schulzeit, galten Sie doch so einigen Lehrern als Schüler „mit zu vielen unterschiedlichen Interessen“. Heute arbeiten Sie als Journalist, Redakteur, Fotograf, Lehrer und Übersetzer – man kann also die Neugierde getrost als eine Konstante in Ihrem Leben bezeichnen?
Neugierde ist im Leben unverzichtbar. Ich jedenfalls muss sagen, dass sie mir oft gute Dienste geleistet hat, auch wenn ich dadurch nicht besonders reich geworden bin. In meiner Kindheit gab’s bei uns zu Hause keinen Fernseher, also konnte ich kaum was anderes tun als lesen, Klavier lernen und in den Kunst- und Fotobänden blättern, die meine Eltern, die beide Fotografen waren, gesammelt haben.
Neugierde führt außerdem dazu, dass man sich beruflich umorientiert und neue Wege einschlägt.
Als der Journalismus, bedingt durch das Aufkommen des Internets und der – oft wenig kompetenten – „Graswurzel“-Journalisten, für deren Arbeit man nicht zahlen musste, in den 1990er-Jahren einbrach, konnte ich mich auf neue Einkommensquellen verlegen. So bin ich zum Übersetzen und Texten gekommen und habe schließlich über Armbanduhren geschrieben.
Was würden Sie den Lehrern von damals heute entgegnen?
Ganz sicher würde ich nach so vielen Jahren nie jemandem sagen, dass er in einem wichtigen Aspekt seiner Arbeit gescheitert ist. Meine Lehrer gehörten zu einer anderen Generation, sie unterrichteten Klassen mit dreißig und mehr Schülern, und sie arbeiteten in einem System, das dem Individuum nicht viel Bedeutung beimaß. In einer Pariser Schule bin ich am Ende des Schuljahrs sogar mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Da war ich 12, und meine schlechtesten Fächer waren Geschichte, Erdkunde und Deutsch. Später habe ich meinen B.A. in Geschichte und Deutsch gemacht.
Was meine Lehrer damals nicht mitbekommen haben, war, dass ich in dem Jahr fast die gesamten Klavierwerke von Chopin und Mozart für mich entdeckt habe.
Beethovens 32 Klaviersonaten habe ich rauf und runter gehört, und ich habe Käfer gesammelt und unter einem Mikroskop studiert. Am Ende meiner Schullaufbahn war ich in der Internationalen Schule in Genf. Dort hatte ich großartige Lehrer, die haben die Vorlieben und Grillen ihrer Schützlinge nicht nur akzeptiert, sondern sogar gefördert. Heute unterrichte ich selbst im Nebenberuf an Genfer Schulen, und deswegen schaue ich immer auf die individuellen Talente meiner Schüler, auch um sie darin zu ermutigen.
Wenn Sie zurückblicken, was hat sich im Laufe der Zeit am prägnantesten für Sie geändert – an Ihren Interessen und vor allem an der Art, sie beruflich zu verfolgen?
Ich muss gestehen, dass ich in dieser Hinsicht eher zuversichtlich bin. Während des Master-Studiums an der University of Massachusetts habe ich nicht nur als studentische Hilfskraft unterrichtet, um meine Studiengebühren zu verdienen, sondern vormittags auch eine Radiosendung moderiert. Darüber kam ich zum Schreiben über klassische Musik und Musiker, worin ich auf eine Art Nische gestoßen bin, weil schon ein gewisses Talent nötig ist, um über ein etwas abgelegeneres Thema verständlich zu schreiben. Später wollte ich mich mit wichtigeren, bedeutenderen Dingen beschäftigen, insbesondere mit Politik, und so habe ich nach dem Umzug nach Deutschland erst Konzertvorschauen für die Deutsche Welle geschrieben und mich dann anderen Themen gewidmet. Ein wichtiger Schwerpunkt waren Reiseführer und Texte über Ungarn.
Zu jener Zeit habe ich versucht, Redakteuren in den USA klarzumachen, dass der Eiserne Vorhang bald fallen würde, aber keiner wollte mir glauben.
Sie hielten das für zu spekulativ. Deswegen habe ich angefangen, über Technik, Wissenschaft, Kultur und hin und wieder auch über politische Themen zu schreiben. Mein erfolgreichster Artikel, den ich ungefähr zehnmal verkaufen konnte, handelte von einem Mann, der Brillen für Hunde herstellte. Das sagt ziemlich viel über den Zustand des Journalismus.
Sie gelten als ausgemachter Uhrenkenner. Was ist Ihre Definition von Zeit?
Meine Faszination für mechanische Uhren begann, als mir zum ersten Mal eine Komplikation namens Zeitgleichung vorgeführt wurde: Das ist ein eigener Zeiger für die von der Erdzeit, also der mittleren Ortszeit, abweichende Sonnenzeit. Ähnlich wie die westliche Musik wurde die Zeit ja so ausgemittelt, dass sie genau in ein Schema mit 24 Stunden passt. Aber wenn ich über die Zeit an sich nachdenke, fühle ich mich an das berühmte Doppelspaltexperiment erinnert, das nachweist, dass Atome entweder Wellen oder Teilchencharakter haben, je nachdem ob ein Beobachter vorhanden ist oder nicht. Uhren erschaffen eine mechanische Zeit, die den Teilchen ähnelt. Sie ist quantifizierbar und dadurch vorhersehbar. Sie entspricht dem, was Henri Bergson mathematische Zeit nannte. Sie gibt an, wie lange wir noch im Zug sitzen oder auf den Sonnenaufgang warten müssen.
Unsere gelebte Zeit, die er Dauer nennt, ist lediglich Teil des Raum-Zeit-Kontinuums.
Sie vergeht, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind und wir erkennen sie eigentlich nur daran, dass unser Besitz schwindet und unser Körper allmählich verfällt. Außerdem ändert sich der Charakter der Zeit, sobald wir sie beobachten. Daher rühren Ausdrücke wie „Im Vergnügen vergeht die Zeit wie im Flug“, weil wir dabei kaum auf die Uhr sehen. Dagegen scheint die Zeit „dahinzuschleichen“, wenn wir beim Zahnarzt im Wartezimmer sitzen und alle vierzig Sekunden auf die Uhr sehen. Kurz und gut: Das alles ist kompliziert.
Sie wurden in New York geboren, leben und arbeiten aber in einer partizipatorischen Kooperative in der Schweiz. Wie kam es dazu und was unterscheidet ein Tag in der Kooperative von dem in einem normalen Haushalt?
Die Kurzantwort lautet, dass die Mieten in Genf, wie in vielen anderen Städten, unerhört hoch sind und Selbstständige bei Hausverwaltungen, die dem freien Markt huldigen, nicht besonders gern gesehen sind. In unserer Kooperative bin ich einer von vielen Eigentümern. Meine Familie und ich mussten nicht dutzende Bewerbungen schreiben in der Hoffnung, eine der schlechtgebauten teuren Genfer Wohnungen zu ergattern.
Unsere Kooperative ist in dem Sinne partizipatorisch, dass wir – das sind insgesamt siebenunddreißig Familien – das Haus tatsächlich selbst entworfen und gebaut haben, mit Hilfe eines Architekturbüros namens ATBA, das nun ebenfalls im Gebäude untergebracht ist. Der ganze Prozess dauerte fünf Jahre, und dabei haben wir ungefähr 140 Besprechungen mit durchschnittlich je 15 Teilnehmern abgehalten. Alle Entscheidungen von der Deckenhöhe bis zu den verwendeten Türgriffen wurden von uns im Konsens getroffen.
Diese Einheitlichkeit herzustellen, war durchaus mühsam, dafür gab’s aber auch einige kräftige Skaleneffekte. Auch die Außenmauern haben wir selbst errichtet, gebaut aus Stroh mit einer Lehmziegel-Außenschale.
Es ist ein bisschen so, als würde man in der Stadt in einem Dorf leben. Wir kennen uns alle, es gibt viel Vertrautheit, aber wir alle haben eine eigene Wohnung.
Die gesamte Hausverwaltung regeln wir in Eigenregie über verschiedene Komitees. Ich zum Beispiel bin im Komitee für die Pflege der Außenfläche, was bedeutet, dass ich mich mit sechs, sieben anderen um die verschiedenen Aspekte des Gartens kümmere. Die Komitees treffen sich immer im festen Turnus, und es wird ein Protokoll geschrieben, so dass man sich über Diskussionen und Beschlüsse informieren kann, wenn man eine Sitzung verpasst, und dann seine Zustimmung geben oder etwas kommentieren kann. Wenn bei einem Projekt Hilfe nötig ist, schreiben wir an die anderen Mitglieder der Kooperative und erledigen die Sache gemeinsam. In einer Garage stehen fünf Autos fürs Carsharing. Die Autos können wir über eine App buchen. Eine Fahrt kostet 55 Rappen pro Kilometer, in diesem Preis ist alles inbegriffen. Außerdem haben wir ein Lager, eine Werkstatt, einen Gemeinschaftsraum mit schöner Küche, eine kleine Bibliothek und einen Dachgarten, in dem man die gärtnerische Kreativität der Leute bestaunen kann. Unser ganzer Stolz ist die Kläranlage im Garten, in der sich tausende Regenwürmer nützlich machen. Das Brauchwasser von dort wird ins Gebäude zurückgepumpt, wo es in die Toilettenspülung fließt oder zur Gartenbewässerung genutzt wird. Auch der Kompost wird wieder im Garten ausgebracht.
Was ist das Schönste am Leben in einer solchen Kooperative, und welche Elemente, die dort gelebt werden, sähen Sie gerne in unserer heutigen Gesellschaft?
Wir leben in einer Zeit des Wandels, wenn nicht gar der Krise. Die Demokratie jedenfalls ist in einer Krise, und die Umwelt ist es auch. Meiner Meinung nach bietet unsere Kooperative Lösungen für beide Krisen.
Wir haben das Haus nach verschiedenen Idealvorstellungen gebaut. Eine davon war, einen positiven Effekt für die Umwelt zu erzielen. Wo Menschen leben, wird Energie verbraucht, aber Energieerzeugung und -verbrauch spielen heute eine große Rolle. Deswegen haben wir eine Wärmepumpe, auf dem Dach stehen Solarpanele, unsere Gerätschaften erfüllen die Standards für Niedrigenergiehäuser usw. Ich will diesbezüglich nicht zum Eiferer werden, aber wir zeigen, was alles möglich ist. Die Anlage mit den Regenwürmern ist ein weiterer wichtiger Baustein. Die bräuchten wir gar nicht unbedingt. Aber es gibt Länder, in denen Wasser Mangelware ist, und wir haben ein voll funktionsfähiges System, das zur Linderung dieser Probleme beitragen könnte. Ich habe nach Vallejo in Kalifornien und Johannesburg in Südafrika geschrieben, leider ohne Antwort. Dabei sind viele gute Ideen erst mal verrückten Träumen entsprungen.
In die Kooperative kommen viele Leute zu Besuch, und wir zeigen ihnen sehr gern, wie alles funktioniert, und erklären, was gut läuft und was weniger gut, damit die nächsten, die so eine Kooperative starten, nicht unsere Fehler wiederholen müssen. Damit sind wir auch so etwas wie ein kleines Gründerzentrum.
Ein anderer Aspekt einer Kooperative wie der unseren ist ein gesellschaftspolitischer. Eine kooperative Lebensweise ist letztlich ein Experiment in Selbstverwaltung und Demokratie. Es lehrt einen, Kompromisse zu schließen und abzuwägen, was wichtig ist. Wir haben ja im Konsens entschieden, welche Türgriffe wir einbauen wollen. Wenn sie einem nicht gefallen, kann man das durchaus sagen, aber man muss sich auch selbst hinterfragen und überlegen, was für das große Ganze besser ist.
Auch das Zuhören muss man lernen. Das kann einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen, aber es ist absolut wichtig. Und wenn man selbst etwas sagt, muss man lernen, beim Thema zu bleiben und nicht wild herumzuschwadronieren. Wir treffen uns ziemlich oft zu Besprechungen, und dabei stößt es mir inzwischen immer stärker sauer auf, wenn andere unterbrochen werden und nicht ausreden können.
Vielleicht darf ich noch eine kleine Anekdote erzählen.
Während des Lockdowns haben wir, wie vielerorts in Europa, irgendwann begonnen, abends auf den Balkonen zu singen.
Allmählich hat sich eine Gruppe gebildet, der sich auch Bewohner des Hauses gegenüber angeschlossen haben. Das hat uns geholfen, die zweieinhalb Monate Lockdown besser zu überstehen, und jetzt besteht die Gruppe noch immer. Wir sind zum Proben aufs Dach gegangen, wo wir ausreichend Abstand halten konnten, und haben dann auf den Balkonen gesungen, begleitet von zwei Gitarren, einer Trommel, manchmal auch von einer Harfe, einer Trompete, einer Klarinette oder einem Saxophon. Die Kinder in der Kooperative waren begeistert. Die Zeit verging wie im Flug, weil das für uns ein Vergnügen war.